Melk

Das Projekt Quarz

Mit dem „Anschluss“ im März 1938 an das Deutsche Reich begannen auch in Österreich die rasche Umstellung und der Ausbau der Industrie für Rüstungszwecke. Die Steyr-Daimler-Puch AG war zu dieser Zeit einer der größten metallverarbeitenden Betriebe in Österreich. Der Betrieb wurde bereits 1938 den Reichswerken Hermann Göring eingegliedert und expandierte mit finanzieller Hilfe der wichtigsten Sparten der Rüstungsproduktion. Hergestellt wurden militärische Kraftfahrzeuge, Motorräder und Fahrräder, Gewehre und Maschinenpistolen, Panzer, Flugzeugmotoren und Wälzlager (Kugellager). Die Produktion von Wälzlagern war durch die deutsche Aufrüstung ab dem Jahr 1933 rapide angestiegen, im Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Luftwaffenindustrie zum größten Einzelabnehmer von Wälzlagern.

Wälzlagerkäfige aus dem Stollen. Bereits ab dem Spätherbst 1944 wurden in der Stollenanlage unter dem Wachberg Wälzlagerkäfige produziert. Foto Wrobel, 1988Wälzlagerkäfige aus dem Stollen. Bereits ab dem Spätherbst 1944 wurden in der Stollenanlage unter dem Wachberg Wälzlagerkäfige produziert, Foto Wrobel, 1988

Dem kriegsbedingten Mangel an Arbeitskräften versuchten das NS-Regime und die Rüstungsfirmen durch massenhaften Einsatz von ausländischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen, ab 1942 auch durch den Einsatz von KZ-Häftlingen, zu begegnen. Zu diesem Zweck wurden rund um bestehende Konzentrationslager zahlreiche Außenlager errichtet. Dem im August 1938 in Mauthausen errichteten ersten Konzentrationslager auf österreichischem Territorium unterstanden bis Kriegsende zeitweise über 40 Außenlager, deren Häftlinge vorwiegend zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie und zur Errichtung von Produktionsanlagen herangezogen wurden. Steyr-Daimler-Puch setzte unter seinem Vorstandsvorsitzenden Georg Meindl ab 1941/42 als erster Rüstungsbetrieb auf österreichischem Gebiet KZ-Häftlinge in seinen Produktionsstätten ein, unter anderem in Steyr-Münichholz, wo zu diesem Zweck ab März 1942 ein Außenlager des KZ Mauthausen existierte.

Die Steyr-Daimler-Puch AG war als Herstellerin besonders kriegswichtiger Rüstungsgüter für die Alliierten ein Angriffsziel mit hoher Priorität. Mehrere Luftangriffe auf die deutsche Wälzlagerproduktion – unter anderem auch auf die Produktion in Steyr-Münichholz im Februar und April 1944 – führten zu einer Beschleunigung der U-Verlagerung, also die Verlegung kriegswichtiger Rüstungsproduktion unter die Erde. Gegen Ende des Krieges war der Mangel an Arbeitskräften in der deutschen Kriegswirtschaft so groß, dass die Errichtung unterirdischer Anlagen nur mehr durch den massenhaften Einsatz von KZ-Häftlingen durchführbar war. Das Interesse am Bau unterirdischer Produktionsanlagen mit Hilfe tausender KZ-Häftlinge lag für Steyr-Daimler-Puch – im Unterschied zur NS-Führung – jedoch nicht nur in der Aufrechterhaltung der Rüstungsproduktion. In den unterirdischen Anlagen konnten wesentliche Produktionskapazitäten über ein mögliches und immer mehr absehbares Kriegsende hinaus gesichert werden. So arbeiteten die KZ-Häftlinge bei den unterirdischen Bauvorhaben auch für die – auf die Nachkriegszeit gerichteten – Interessen der Industrie.

Ein Teil der Stollenanlage wurde vollständig ausgebaut und zur Produktion genutzt. Foto: Bernhard MühlederEin Teil der Stollenanlage wurde vollständig ausgebaut und zur Produktion genutzt, Foto Mühleder.Im hauptsächlich aus Quarz-Sand bestehenden „Wachberg“ nahe der Ortschaft Roggendorf wurde unter dem Decknamen „Quarz“ eine unterirdische Produktionsanlage geplant, die auf mehrere Stollen verteilt eine Produktionsfläche von 65.000 m2 umfassen sollte. Als Arbeitskräfte für den Bau der unterirdischen Rüstungsfabrik sollten KZ-Häftlinge eingesetzt werden. Deshalb wurde im April 1944 – nach anfänglichen Überlegungen, direkt im Bereich der Stollenbauarbeiten in Roggendorf KZ-Baracken aufzubauen –, ein anderer Standort gewählt: Die Birago-Kaserne, benannt nach dem Militärtechniker Karl Freiherr von Birago, wurde während der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie in den Jahren 1912/1913 errichtet und stand im Frühjahr 1944 nahezu leer. Somit bot sich der Waffen-SS hier das ideale Areal zur Umfunktionierung in ein Konzentrationslager.